U. Altermatt: Der schweizerische Bundesrat 1848–1875

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Title
Vom Unruheherd zur stabilen Republik. Der schweizerische Bundesrat 1848–1875. Teamplayer, Schattenkönige und Sesselkleber


Author(s)
Altermatt, Urs
Published
Zürich 2020: NZZ Libro
Extent
357 S.
by
Markus Furrer, Institut für Geschichtsdidaktik und Erinnerungskulturen, Pädagogische Hochschule Luzern

Der Herausgeber des Bundesratslexikons, Urs Altermatt, untersucht in seiner neuen Studie zum schweizerischen Bundesrat von 1848 bis 1875 die schweizerische Kollegialregierung in einer zeitlichen Längsperspektive als Ergänzung zur Darstellung von Einzelpersönlichkeiten, wie sie im Lexikon aufscheinen. Er stützt sich dazu auf eine breite Datenfülle, die er im vorliegenden Buch zu einer synthetischen Bundesratsgeschichte formt, was bis anhin ein Desideratum war. Im Fokus des umfangreichen Bandes steht die Periode von 1848 bis 1875, also jene Phase von der modernen Bundesstaatsgründung bis zur Verfassungsrevision. Urs Altermatt unterteilt diese Jahrzehnte in die Zeit der «Schaffung der Bundesbehörden im Rekordtempo», in die «Wilde[n] 1850er-Jahre», in die «1860er-Jahre: auf der Suche nach Stabilität», in die Zeit «1870–1872: unversöhnliche Konflikte im Bundesrat wegen der Bundesrevision» sowie in die «Wende von 1874/75». Er zeigt so, wie sich das schweizerische Mischsystem, angelegt zwischen parlamentarischem und präsidialem Modell, herausgeformt hat. Das Buch hebt die Bedeutung des staatspolitischen Modells hervor, dank dessen sich der moderne Bundesstaat in einer turbulenten Zeit stabilisieren konnte. Deutlich wird, wie und warum der Bundesrat für die nationale Kohäsion derart bedeutend ist und wie die Landesregierung seit Beginn der modernen Schweiz als nationales Scharnier wirkte. Bedeutende Entwicklungen und auch Eigenheiten, wie sie Urs Altermatt auch im aktuellen Regierungssystem beobachtet, gehen auf diese Zeit zurück. So schreibt Altermatt von den Bundesrätinnen und Bundesräten als «schweizerischen Royals» (dies mit Fragezeichen) und unter «Ministeranarchie» versteht er die dem System seit Anbeginn innewohnende Spannung zwischen einer kollegialen Regierungsstrategie und einer operationellen Departementsleitung.
Die vorliegende Studie verdeutlicht ferner die nicht zu unterschätzende Wirkung der von den Verfassungsvätern 1848 gewählten Regierungsform auf die Weiterentwicklung des Landes und zeigt auf, wie sich in der frühen Phase des Bundesstaates das Regierungssystem herausformte. Mit 1848 hatte die Schweiz zum ersten Mal eine wirkliche Landesregierung mit Exekutivgewalt, die zudem seit Anbeginn durch politische Stabilität und personelle Kontinuität geprägt ist. Das Land zeichnet sich im Unterschied zu seinen europäischen Nachbarn durch eine grosse Kontinuität mit seit 1848 unveränderten politischen Institutionen aus. Entsprechend beleuchtet sind im vorliegenden Buch die Mechanismen und Eigenheiten, wie die bis auf wenige Ausnahmen von der Bundesversammlung bestätigte Wiederwahl erneut kandidierender Bundesräte. Sie war bereits 1857 zum Usus geworden. In pragmatischer Weise überliess die Verfassung dies dem Parlament. Diese Stabilitätsregel war ferner der Tatsache geschuldet, dass bis 1919 Bundesräte nach dem Verlassen ihres Amtes kein Ruhegehalt erhielten. Nicht alle Bundesräte blieben jedoch so lange im Amt wie Carl Schenk, der von 1863 bis 1895 über 31 Jahre im Bundesrat wirkte. Das Buch schöpft so aus einer Fülle anschaulicher Beispiele. Mehr als uns heute bewusst ist, zeigte sich im Bundesrat der Gründerzeit die föderale Struktur der Eidgenossenschaft. Damit einher ging eine für damalige Zeitgenossen wahrnehmbare «Oligarchie der grossen Kantone». So wählte die Bundesversammlung im Jahr 1848 Repräsentanten der fünf grössten Kantone in die Landesregierung. Altermatt spricht hier von einem «kantonalistischen Denken». Eine diskriminierende Ausnahme von dieser Grössenregel war der Ausschluss des im Sonderbundkriegs unterlegenen früheren katholischen Vororts Luzern. Auch amtierten in dieser Phase «zwei Klassen» von Bundesräten, was sich darin zeigte, dass nicht alle das Amt des Bundespräsidenten bekleiden konnten, der in seiner einjährigen Amtsperiode das Eidgenössische Politische Departement leitete. Beim geschaffenen Präsidialamt handelt es sich um eine Anlehnung an die Funktion des Landammanns aus der Mediations- und Restaurationsphase. Um diese Position des Bundespräsidenten fanden zu dieser Zeit Wahlkämpfe im Gremium statt mit dem Ergebnis, dass gewisse Bundesräte in kurzen Rhythmen das Ehrenamt bekleideten, während andere gar nie zum Zuge kamen. Die prädominanten Bundesräte waren die jeweiligen Führer der beiden Regierungsparteien und bildeten eine Art Duumvirat (Furrer und Druey, Furrer und Stämpfli, Dubs und Schenk, Welti und Schenk), wie dies der Oppositionspolitiker aus dem katholisch-konservativen Lager, Philipp Anton von Segesser, beschrieben hatte. Dessen Befürchtungen jedoch über eine stille Etablierung einer Präsidentschaft im amerikanischen Stil der USA sei zu pessimistisch, wie Altermatt bemerkt, wenn sie auch ein Körnchen Wahrheit enthalte. Altermatt spricht hingegen hypothetisch von einer versteckten oder lavierten semipräsidialen Periode in dieser frühen Phase des modernen Bundesstaates. Einen Einfluss auf die Bundesratswahlen hatte zudem die sogenannte Komplimentswahl, bei der wieder kandidierende Bundesräte als Voraussetzung für eine Wiederwahl vorher in den National oder Ständerat gewählt werden mussten, was beispielsweise zur Abwahl des «Gründervaters» Ulrich Ochsenbein führte.
Wie aus der vorliegenden historischen Analyse hervorgeht, bedarf insbesondere das Schlüsselnarrativ des dominanten Freisinns im modernen Bundesstaat, das durch den kulturkämpferischen Antagonismus mit dem politischen Katholizismus gar noch kumuliert worden ist, einer kritischen Überprüfung. Es handelt sich hier um eine im Nachhinein geprägte und vereinfachende parteipolitische Zuordnung, die einer genaueren Betrachtung mit Bezug zur Quellenbasis nicht standhält. Die siegreiche freisinnige Parteifamilie zerfiel nach 1848 in lose Fraktionen, die sich bereits ab Mitte der 1850erJahre als zwei Parteiformationen, die Radikalen und die Liberalen, verstanden und sich vor allem im Ausschluss der konservativen Sonderbundspartei einig waren. Zeitgenössische Medien unterteilten in eine «Linke» (Radikale, später Freisinnige), eine «Mitte», später das «Zentrum» (Liberale) und eine «Rechte» (Konservative katholischer und protestantischer Observanz). Der damalige Bundesrat setzte sich folglich aus einer Zweiparteienkoalition aus Radikal-Demokraten und Liberalen zusammen, wobei die «liberale Mitte» in wechselnden Allianzen mit gemässigten Radikalen und mit oppositionellen Konservativen die grossen Linien der damaligen Bundespolitik zu bestimmen wusste. Mit Blick auf das erste Bundesratskollegium zeigt sich auch die Schlüsselposition, die die «liberale Mitte» um den ersten Bundespräsidenten, Jonas Furrer, einnahm. Urs Altermatt bezieht sich hier auf eine bereits von Erich Gruner vorgenommene Zuteilung, um so der historischen Wirklichkeit von 1848 bis 1874 gerecht zu werden.
Mit Blick in diese frühe Phase des schweizerischen Regierungssystems rückt Urs Altermatt vorschnelle Annahmen zurecht und deckt Entwicklungen auf, die in Vergessenheit geraten sind. Damit schärft er auch den Blick für aktuelle Entwicklungen im Bundesrat. Altermatt umschreibt am Schluss den Bundesrat als «kollektive Wahlmonarchie», die er als metaphorisches Wortspiel versteht, denn die Schweiz war und blieb eine Republik. Die entscheidenden Weichen für die Weiterentwicklung der Schweizerischen Bundesregierung, einer in Europa von 1848 durchaus einzigartigen institutionellen Schöpfung, wurden in der Periode von 1848 bis 1874 gestellt, wie dies in diesem Buch offensichtlich wird.

Zitierweise:
Furrer, Markus: Altermatt, Urs: Vom Unruheherd zur stabilen Republik. Der schweizerische Bundesrat 1848–1875. Teamplayer, Schattenkönige und Sesselkleber, Zürich 2020. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Religions- und Kulturgeschichte, Vol. 115, 2021, S. 475-477. Online: <https://doi.org/10.24894/2673-3641.00100>

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